Hintergrundinformationen

An dieser Stelle findet ihr Informationen zur politischen Bewertung der Leiharbeit in Deutschland sowie zur juristischen Einschätzung der aktuellen Situation.


Foto: tijmen/sxc.hu

 

Leiharbeits-Tarifverträge: Juristische und politische Argumente

Seit Ende 2012 gibt es in den DGB-Gewerkschaften zunehmende Diskussion um die Forderung, dass die Leiharbeits-Tarifverträge zwischen DGB und den Leiharbeits-Arbeitgeberverbänden ersatzlos gekündigt werden sollten. Im Arbeitnehmer-überlassungsgesetz (AÜG) ist festgelegt, dass LeiharbeitnehmerInnen gleichen Lohn wie die Stammbelegschaften mit gleichen Arbeitsaufgaben bezahlt bekommen – es sei denn, es gibt einen Tarifvertrag für sie. Bei der Agenda 2010-Gesetzgebung waren die Bedingungen für Leiharbeit entscheidend gelockert worden. Damals glaubten die DGB-Gewerkschaften, sie könnten angemessene Löhne in diesem Bereich erreichen, jedoch der Christliche Gewerkschaftsbund schloss katastrophal niedrige Tariflöhne ab und den DGB-Gewerkschaften gelangen danach keine wesentlich besseren Abschlüsse. Denn keine Gewerkschaft hat eine Chance, die über viele Betriebe verstreuten Leiharbeitskräfte erfolgreich zu einem gemeinsamen Streik für ihre Interessen aufzurufen.  Es folgte ein Rechtsstreit, in dem nach mehrjährigem Instanzenweg die Tarifverträge der „Christlichen“ auf der ganzen Linie für rechtswidrig erklärt wurden, so dass jetzt Nachzahlungen der Arbeitgeber anstehen. Die Christlichen Gewerkschaften haben soeben (28.3.2013) erklärt, dass sie nicht mehr versuchen werden, Tarifverträge im Bereich der Zeitarbeit (wie sie sie nennen) abzuschließen. Nun stehen nur noch die Tarifverträge der DGB-Gewerkschaften der gesetzlich vorgesehenen Gleichbezahlung mit den Stammbelegschaften im Wege. 

Es liegt auf der Hand, dass Gewerkschafter nun ein ersatzloses Ende dieser Tarifverträge fordern. Möglich wäre dies zum Termin 31.10.2013. Die Tarifverträge sind bereits gekündigt – aber nicht ersatzlos, wie es erforderlich wäre, sondern die Gewerkschaften wollen einfach eine normale Lohnerhöhung wie in allen anderen Branchen. Aktuell liegen die unteren Stundenlöhne für Leiharbeiter bei 8,19 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten. In den Verhandlungen wollen die Gewerkschaften nun eine Untergrenze von 8,50 Euro und Angleichung der Ost-Tarife an die West-Tarife durchsetzen, d.h. für Westdeutschland eine Erhöhung der untersten Stufe um knapp 3,8%.
 


Wieso wird die Gelegenheit für Gleichbezahlung nicht genutzt?

Die Gewerkschaften führen eine Reihe von Argumenten an (siehe z.B. hier )

1. Langer Rechtsstreit um Nachwirkung
Würden die Gewerkschaften die Tarifverträge ersatzlos kündigen, stünde ohne Zweifel ein längerer Rechtsstreit durch die Instanzen über die Nachwirkung der Verträge bevor.  Der strittige Punkt ist: kann ein Leiharbeitgeber dadurch, dass er im Arbeitsvertrag auf die gekündigten Tarifverträge Bezug nimmt, weiterhin den Tarifvorbehalt im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz anwenden oder nicht?
Unstrittig ist, dass gekündigte Tarifverträge für die LeiharbeitnehmerInnen, die schon vor der Kündigung einen Arbeitsvertrag mit einer Verleihfirma hatten, für die Dauer dieses Arbeitsverhältnisses nachwirken. Dieser Punkt ist aber nicht entscheidend, weil die Mehrzahl der Leiharbeitsverhältnisse (55%) kürzer als 3 Monate läuft.  Entscheidend ist, was für neu abgeschlossene Arbeitsverträge gilt.  Das Thema ist im Zusammenhang mit Leiharbeit juristisches Neuland und es gibt heiße Diskussionen über die Chancen eines Rechtsstreits. Die GewerkschafterInnen, die für die ersatzlose Kündigung der TV eintreten, haben z.B. den bekannten Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler auf ihrer Seite.
Wozu hat man Gewerkschaften, wenn sie nicht auch Auseinandersetzungen mit langem Atem führen? Durch Vorfälle wie bei Amazon, wo katastrophale Arbeitsbedingungen für eine große Zahl von Leiharbeitern bekannt wurden, haben die Gegner der Leiharbeit Rückenwind und sollten ihn nützen. Auch Arbeitsrichter leben nicht im luftleeren Raum, sondern können darauf reagieren, wenn in der Gesellschaft Leiharbeitnehmer immer mehr als Rechtlose gesehen werden.

Klar ist, dass für eine gerichtliche Auseinandersetzung Leiharbeitnehmer gefunden werden müssen, die zur Klage bereit sind.  Dies sollte dem DGB mit seinen Millionen von Mitgliedern bei einiger Anstrengung gelingen.

2. Gefahr neuer Dumping-Gewerkschaften
Ein weiteres Argument der Gewerkschaftsjuristen ist die Sorge darum, dass sich neue Gewerkschaften bilden könnten, die wie der Christliche Gewerkschaftsbund wiederum neue Dumping-Tarifverträge abschließen könnten. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sich noch einmal eine Organisation gründet, die bereit ist, sich eine blutige Nase zu holen. Auch für eine solche Gewerkschaft würden dieselben Rechtsgründe wie beim CGB zum Tragen kommen, warum sie keine gültigen Tarifverträge abschließen kann. Neuerdings wird das Argument auf ausländische Arbeitgeber mit Partnergewerkschaften ihres Landes ausgedehnt, die Leiharbeiter aus ihrem Land zur Arbeit nach Deutschland schicken könnten. Auch hier juristisches Neuland. Es ist aber schwer vorstellbar, dass so etwas massenhaft vorkommt. Nicht zuletzt hätten hier auch die Betriebsräte der Entleihbetriebe mitzubestimmen.

3. Mindestlohn für Leiharbeit
Für Leiharbeitnehmer in nicht tarifgebundenen Betrieben gilt bis zum Ende der aktuellen Tarifverträge (31.10.2013) ein Mindestlohn in Höhe des niedrigsten Leiharbeits-Tarifentgelts, also 8.19 € im Westen und 7.50 € im Osten Deutschlands. Bei Kündigung der Leiharbeitstarifverträge müsste zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung das Fortbestehen und die Höhe dieses Mindestlohns neu ausgehandelt werden. Die Arbeitgeber würden sich einem Mindestlohn zweifellos widersetzen, aber in der aktuellen politischen Situation ist schwer vorstellbar, dass die (dann neu gewählte) Regierung den einmal eingeführten Mindestlohn wieder abschafft – zu einer Zeit, bei der in allen Parteien über mehr und nicht über weniger Mindestlöhne diskutiert wird. Interessant wäre die Frage, auf wie viele Leiharbeitskräfte in tariffreien Betrieben der Mindestlohn zutrifft – hier könnte das WSI-Institut für Aufklärung sorgen. Auch hier weist die IG Metall auf grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse hin.
Auf jeden Fall wären aber auch in nicht tarifgebundenen Betrieben die Arbeitgeber zu vergleichbaren Löhnen wie für die Stammbelegschaft verpflichtet, und nur wenn diese Löhne unter dem Mindestlohn lägen, hätten die LeiharbeitnehmerInnen durch einen Wegfall des Mindestlohns einen Nachteil.

4. Branchenzuschläge
Ein Teil  der deutschen Gewerkschaften hat 2012 mit dem Abschluss von Branchentarifverträgen begonnen, so die IG Metall (einschließlich Holz- und Textilbereich), die IG BCE, die Eisenbahnergewerkschaft EVG und der kleine Druckbereich von ver.di.
Auf diese Aufzahlungen für Leiharbeitnehmer, die in ihrem Organisationsbereich tätig sind, sind diese Gewerkschaften sehr stolz, weil im Vorfeld im Metallbereich u.a. eine intensive Diskussion mit der Gewerkschaftsbasis über prekäre Beschäftigung geführt wurde. Diese Bildungsarbeit war respektabel und hat den Wissensstand unter den Gewerkschafts-mitgliedern verbessert. Das hauptsächliche Ergebnis, die Branchenzuschläge, bringen Verbesserungen für die Leiharbeiter, aber der Abstand zum so genannten Equal Pay bleibt immer noch groß, z.B. aufgrund der viel schlechteren Schichtzuschläge, weniger Urlaub und Sonderzahlungen. Die Branchenzuschläge können mit bisherigen übertariflichen Zahlungen, wo es solche gab, verrechnet werden.

5. Pufferfunktion bei Krisen
Besonders heikel ist die Frage, ob nicht eine Reihe von Gewerkschaftern, insbesondere von Betriebsräten,  insgeheim ganz froh ist, wenn in Krisen als erstes die Leiharbeitskräfte den Job verlieren. Zur Zeit erlebt man es wieder genauso wie 2008 / 2009: die Verträge der Leiharbeiter laufen in Krisenbereichen einfach aus, die Betroffenen werden arbeitslos, die Stammbelegschaften bleiben zunächst unbehelligt. Demgemäß redet die IG Metall nicht mehr von Leiharbeit als Sklavenarbeit, wie zu Beginn der oben erwähnten Kampagne (Ende 2011), sondern sie will „Leiharbeit fair gestalten“ also nicht abschaffen. Diese Spaltung der Beschäftigten im Betrieb mit allen Folgen für Streikfähigkeit, gewerkschaftliche Organisation usw. kann aber eine Gewerkschaft im eigenen Interesse nicht wirklich gut heißen.

Fazit:
Eine Kündigung der Leiharbeits-Tarifverträge ist für gewisse Zeit und für einige der Leiharbeitskräfte mit Risiken verbunden, für die große Zahl der Beschäftigten in der Leiharbeit aber zweifellos auf Dauer günstiger.  Wenn die Gewerkschaften sich ernsthaft auf die Diskussion einließen, würden sie den Umfang dieser Risiken in Bezug auf die Lohnhöhe und Anzahl der möglichen Betroffenen nennen. 
Die Alternative zu den Risiken ist aber klar: es bliebe alles, wie es ist, d.h. die Leiharbeitskräfte blieben immer die billigen ArbeitnehmerInnen zweiter Klasse, die Belegschaften gespalten. Dazu sagen wir Nein! Am besten wäre es, dass Leiharbeit überhaupt abgeschafft wird. Solange dies nicht erreicht wird, ist die Mindestforderung: Gleiche Bezahlung und Behandlung für LeiharbeiterInnen – und wenn es dadurch weniger Leiharbeit und mehr Stammbeschäftigte gibt: um so besser!

 

 
Transparent auf der 1. Mai-Demonstration des DGB in Berlin 2012. Foto: Uwe Hiksch

 

Politische Bewertung der Leiharbeit in Deutschland: Mit falsch verstandenem Standortdenken zerstören sich die Gewerkschaften selbst

Deutschland ist Vize- Exportweltmeister. Die Stärkung der Exportfähigkeit wird quer durch (fast) alle gesellschaftlichen Institutionen (Regierung, Unternehmer-verbände und leider auch Gewerkschaften) quasi zur Glaubensfrage gemacht, zur Staatsräson erklärt. Dabei spricht nichts dagegen, dass Warenströme aus Deutschland weltweit Menschen mit Gütern versorgen, die sie brauchen. Aber nur so lange, wie im gleichen Umfang Warenströme in unser Land fließen (und hier auch gekauft werden können), die hierzulande die Menschen mit Gütern versorgen, die sie brauchen.

Schädlich wird die herrschende Ideologie und Praxis, weil die Voraussetzungen für die Exportkraft, de facto mit Lohn- und Sozialdumping geschaffen werden. Deutschland ist weltweit eines der Länder mit den niedrigsten Lohnstückkosten, erkauft mit Reallohnverlusten bei Tarifabschlüssen, mit Ausplünderung der Sozialversicherungen,  vor allem aber mit krebsartig auswucherndem Billiglohnbereich (Leiharbeit, Werkverträge, erzwungene Teilzeit, geringfügige Beschäftigung etc.)  Jeder dritte Arbeitsplatz hierzulande fällt schon in die Kategorie der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Dass dies nicht einfach so „passiert“, sondern gewollt ist, zeigen nicht zuletzt die vielen Bekenntnisse auch führender Gewerkschaftsfunktionäre zur „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“. Es geht den „Machern“ hierzulande nicht um Exporte an sich, sondern um Exportüberschüsse. Die deutsche Wirtschaft funktioniert nur, wenn diese ständig exorbitant anwachsen. Und eben deshalb funktioniert sie (auf Dauer) nicht. Die Export-Überschüsse der Einen sind nämlich die Handels-bilanzdefizite der Anderen. Was sich derzeit zum Beispiel in den südeuropäischen Ländern abspielt, wird mit jedem Land der Welt passieren, das wir niederkonkurrieren. (Die Importkraft dieser Länder bricht zusammen und damit auch die Exportmöglichkeiten der „Starken Industrienationen“). Um sich von dem (tendenziell) kleiner werdenden „Exportkuchen“ weiterhin eine immer größer werdende Scheibe abschneiden zu können, zerstören sie die Massenkaufkraft auch im eigenen Land. Regierung, (fast die ganze) Opposition und  Wirtschaftsbosse sägen unisono an dem Ast, auf dem wir alle sitzen und Gewerkschaftsführungen (sowie Standort- Ideologen sogar in den Betriebsräten) sägen pflichteifrigst mit. Der eigentliche gewerkschaftliche Grundgedanke ist, die Konkurrenz der abhängig Beschäftigten untereinander zu unterbinden, national und weltweit. Wenn Beschäftigte und Belegschaften nun auch von Gewerkschaften in Konkurrenz zu einander getrieben werden, schaffen sich diese (dem Wesen der Sache nach) selbst ab. Sie schaffen sich aber auch ganz praktisch selbst ab, wenn sie sich bloß noch zum (scheinbaren) Sachwalter der Stammbelegschaften der tarifgebundenen Betriebe machen und gleichzeitig mithelfen den Billiglohnbereich zu etablieren und zu betonieren.
Wenn hinter jedem Tarifbeschäftigten erst mal ein „Prekärer“ steht, der geil auf dessen Job ist (und darauf dressiert im Konkurrenzkampf der „armen Schweine“ die Anderen zu unterbieten), werden die Gewerkschaften als konfliktfähige Interessenvertretung ausgespielt haben, werden Tarifverhandlungen zu kollektivem Betteln degenerieren. Dieser Prozess ist bereits im Gange. Die Tatsache, dass in Westdeutschland bereits weniger als 60% aller Arbeitsverhältnisse tarifgebunden sind (in Ostdeutschland sogar weniger als 40%) ist sowohl Ergebnis, als auch (im Wechselverhältnis) Ursache der galoppierende Schwindsucht, gewerkschaftlicher Gestaltungskraft.

Ohne ein Umdenken auf allen Ebenen der Gewerkschaftspolitik ist der Kollaps vorprogrammiert.